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Schlüsselloch ... ein heimlicher Blick auf Texte

Maik Schurkus

Webfehler

Um acht Minuten nach neun betritt Joana den Konferenzraum. Ich habe folgende Regeln Joana betreffend identifiziert:

  1. Wenn Joana den Raum betritt, unterbrechen alle ihre Gespräche, wenden sich ihr zu und lächeln Joana an.
  2. Man muss zu Joana Dinge sagen, wie „Schön, dass du da bist.“
  3. Joana redet immer nur mit denselben ein oder zwei Personen (ich gehöre nicht dazu)
  4. Wenn über Joana gesprochen wird, muss man sagen, dass sie ein besonderer Mensch ist
  5. Grund: unbekannt

Fast alle kennen Joana länger als ich. Ich bin erst seit fünf Wochen und zwei Tagen im Forschungsteam, die Wochenenden nicht mitgezählt; allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich die Wochenenden nicht auch mitzählen müsste. Ich bin dann zwar nicht im Institut, aber deswegen höre ich nicht auf, Joana zu kennen (Wortfehler: Ich kenne sie nicht, ich habe beruflichen Umgang mit ihr).

Ich weise alle Anwesenden darauf hin, dass es bereits dreizehn Minuten nach neun sind und die Konferenz um neun Uhr angesetzt war. Niemand reagiert darauf, obwohl die meisten Folgetermine haben. Wir beginnen erst um siebzehn Minuten nach Neun. Joana stört sich an der Unpünktlichkeit anderer Personen, sie selbst ist häufig unpünktlich (durchschnittlich an zwei von fünf Tagen in der Woche, summiert auf 35 Minuten).

Ich habe Merit gefragt, warum Joana ein besonderer Mensch ist. Ich habe Merit wiederholt im Zweiergespräch mit Joana beobachtet. Merit kommt ebenfalls häufig zu spät, wird aber selten zurechtgewiesen, da ihre Begründung „wegen den Kindern“ lautet (sie ist alleinerziehend). Dabei steht sie vor Arbeitsbeginn häufig auf dem Parkplatz und raucht. Bei dieser Gelegenheit darf man sie nicht ansprechen, sie wendet sich ab, wenn sie ein Teammitglied sieht. Ich habe Merit daher am Kaffeeautomaten nach der Besonderheit von Joana gefragt. Sie hat daraufhin Zeichen der Verärgerung gezeigt (das sind: gewölbte Augenbrauen, Schnitzgesicht), Grund: unbekannt.

Dann habe ich Thomas gefragt, den man jederzeit ansprechen darf, sogar auf der Herrentoilette. Nach der Erfahrung mit Merit habe ich die Frage aber anders formuliert. Ich habe ihn gefragt, ob er mir etwas über Joana erzählen könnte. Die Frage ist denkbar unpräzise; das Wort „etwas“ ist eine Fehlstelle in der Sprache. Ich habe aber bemerkt, dass es gerne und oft verwendet wird. Dass Thomas nicht antwortet, ist die zwangsläufige Folge ungenauer Fragen. Er stellt mir eine (präzise) Gegenfrage:

„Wieso? Willst du was mit ihr anfangen?“

„Nein, ich möchte verstehen, warum sie ein besonderer Mensch ist.“

„Da kommst du eh zu spät. Die ist seit Jahren mit Ansgar zusammen.“

Er geht nicht auf mein Anliegen ein, sondern verfolgt seinen Gedanken weiter. Manche Menschen funktionieren wie eine Kugel in einer Rollkonstruktion für Kinder: Sie können nicht abbiegen, sie können nicht anhalten.

Dann schüttelt er noch den Kopf, ob über mich oder etwas, das er auf dem Smartphone gesehen hat, auf das er die ganze Zeit schaut – unbekannt.

[...]

 

zum gesamten Text "Webfehler":

 

Maik Schurkus Webfehler
Kurzgeschichte Lesung "Alles anders als sonst" Kölner Literaturhaus 2024
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